Eine Zeitreise in der Küche meiner Eltern
Der Backofen brummt, der Herd ist im vollen Betrieb, die Küchenmaschine ist schon weggepackt. Wir sind gerade mittendrin beim Beigli-Backen als ich einfach mal frage, wie alt denn dieses äh… Dingsbums bei der Mikrowelle ist.
Meine Mutter: „Ach, so ungefähr so alt wie du“.
„Haben wir denn noch mehr altes Zeug in der Küche?“
Das Ergebnis:
Auf der Wage rechts unten wurde ich schon als Baby gewogen (gekauft 1978 in Debrecen). Die Schüssel darauf ist ein Erbstück meiner Oma und mindestens 100 Jahre alt. Der Holzlöffel in der Mitte ist an einer Stelle etwas abgenutzt, vermutlich vom vielen Abklopfen auf Topfrändern. Ich vermute, er wird in spätestens 30 Jahren durchbrechen. Die Nussmühle links unten ist auch schon eine Antiquität und wurde bereits einmal geschweißt – aber sie funktioniert immer noch: mit ihr haben wir erst heute Walnüsse gemahlen. Die Pfeffermühle, die auch heute noch täglich benutzt wird, haben meine Eltern zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen (1973). Und damit die Waage ganz hinten ihren Weg auf dieses Foto finden konnte, muss ich meinen Vater motivieren, auf den Wohnzimmerschrank zu klettern und das Ungetüm von dort herunterzuhieven – sie ist somit die einzige Antiquität auf diesem Bild die nicht mehr regelmäßig benutzt wird (die Mörser nutzen wir auch nur selten). Und dann frage ich mich: Wie viele Dinge werde ich in 30 oder 40 Jahren haben, die ich schon heute besitze und die in der Zukunft immer noch zu gebrauchen sein werden?
Während ich noch darüber philosophiere, packt meine Mutter andere alte Dinge aus. Wie z.B. das hier:
Eine Kohlreibe, mit der meine Eltern u.a. das Csalamádé (rechts im Bild) machen. Die Klinge ist selbst nach mindestens 60 Jahren (so genau wissen wir es nicht mehr) noch scharf. Geschaffen wurde dieses Wunder an Langlebigkeit vom Stiefvater meines Vaters, der Tischler war. Dann haben wir da noch einen Fleischklopfer aus den 1980ern, einen uralten Korkenzieher unbekannten Datums, echte Retro-Töpfe und zig andere Dinge, die schon ewig benutzt werden.
Ich bin ja schon froh, wenn ein Dingsbums in meiner Küche zehn Jahre lang überlebt. Aber nein: Griffe brechen ab, die Elektrik versagt, Klingen splittern (von meiner Gurkenreibe), das Plastik wird brüchig (z.B. von der Schöpfkelle). Unsere Dingsbumse sind nicht mehr für die Ewigkeit gemacht.
Oh nein, das Auge isst mit! How to schöne Foodfotos?
Foodblogs waren nie ein Thema für mich. Die einzige Recherche, die ich im Vorfeld von Hungeria gemacht habe, war, um zu schauen, ob es ein deutschrachiges Blog für ungarische bzw. siebenbürgische Spezialitäten gibt. Eine 10-minütige Recherche hat ergeben: nein (das Gegenteil hätte mich aber auch nicht davon abgehalten (-; )
Je mehr ich mich aber mit diesem Thema beschäftige, umso mehr wird mir klar: Ein Foodblog braucht schöne Bilder. Unbedingt. Beim fünften Rezept (Fánk) habe ich also meine geliebte Spiegelreflexkamera ausgepackt. Das alte Ding macht zwar schöne Fotos aber leider auch Rückenschmerzen, weshalb die letzten Bilder auf der Speicherkarte aus dem Jahr 2012 stammen. Beim sechsten Rezept (Torma/Meerrettich) frage ich meine Eltern, ob sie nicht irgendwo dunkle Teller hätten. Denn schneeweißer Meerrettich auf einem weißen Teller sieht irgendwie so… unsichtbar aus. Nein, sagen sie, haben sie nicht, und auf die dunklen Metallteller darf man den Meerrettich nicht drauftun, sonst passieren unschöne chemische Reaktionen. Na, dann fotografiere ich den Meerrettich eben auf dem Holzbrett. Da wusste ich, dass ich bald mal neue Teller und Schalen kaufen sollte. Beim siebten Rezept (lucskos káposzta), es war schon abends, war klar, dass die einsame Energiesparlampe an der Decke nicht das richtige Setting für schöne Fotos ist – da kann selbst Photoshop nichts mehr ausrichten. Ein Blitz und/oder besseres Licht muss her.
Und plötzlich droht das ganze Projekt namens Hungeria auszuarten…
Hello world! Hello Hungeria!
Ach, wie lange habe ich mich mit dieser Idee herumgeschlagen? Vor Ewigkeiten habe ich meiner Mutter zu Weihnachten ein Büchlein geschenkt und sie gebeten, alle ihre Rezepte aufzuschreiben. Tolles Geschenk, das so viel Arbeit macht, hat sie geschmunzelt. Ersten Nachforschungen zufolge muss das im Jahr 2008 gewesen sein, denn die ersten Rezepte stammen aus dem Frühjahr 2009. Meine Mutter hat also fleissig Rezepte gesammelt und aufgeschrieben. Wenn meine Eltern mal wieder etwas besonders ausgefallenes wie z.B. Sauerampfersuppe aufgetischt haben, habe ich sie gefragt, ob sie dieses Rezept denn auch aufgeschrieben hätte. Oft kam ein Nein. Also, hingesetzt und aufgeschrieben. So vergingen die Jahre, das Rezeptbüchlein füllte sich. Je mehr Rezepte ihren Weg in das Büchlein gefunden haben, um so mehr ist der Elan erlahmt, weitere hinzuzufügen.
Das Büchlein liegt im Wohnzimmer zwischen all den alten ungarischen Bildbänden und dicken Wälzern die langsam verstauben. Jedesmal wenn ich meine Eltern besuche, sehe ich es und blättere manchmal darin herum. Ah, Zakuszka, gefüllte Paprika und Zwetschenkuchen, interessant. Das Kochgen, von der meine Mutter immer behauptet hat, dass es mich mit spätestens Mitte 30 befallen würde, hat sich immer noch nicht gezeigt. Dennoch hat mich dieses Thema nie losgelassen. Ob Vollmachten, Patientenverfügung oder Klärung von Fragen zum Testament: Meine Eltern erinnern mich regelmäßig daran, dass sie eines Tages nicht mehr für mich da sein werden. Vielleicht erst in 20 Jahren, aber vielleicht auch schon sehr bald. Eine traurige und bittere Erkenntnis. In weiser Voraussicht treffen sie schon heute die Vorkehrungen für den Ernstfall, der garantiert eintreffen wird. So ist das Leben. Und ich will meinen winzigen Teil dazu beitragen. 2008 dachte ich noch, es würde reichen, diese Rezepte aufzuschreiben. Aber reicht das, um das Wissen meiner Eltern zu erhalten? Ich wusste, wenn es wirklich darauf ankäme, würde ich vor diesem Rezeptbüchlein sitzen und die gefüllten Paprika garantiert nicht so hinkriegen, wie meine Eltern sie gezaubert haben: Mit saftigem Biss und schön sämiger und aromatischer Soße.
So reifte langsam die Erkenntnis in meinem Kopf heran: aufschreiben ist nicht genug. Ich muss dabei sein, wenn sie die Sauerkrautroulladen füllen, um zu wissen, wie sie das hinkriegen, dass die Roulladen nicht zerfallen. Und es gibt noch so viele mehr Gründe, warum ich dabei sein sollte, wenn meine Eltern kochen: Ich stelle fest, dass es gar nicht so aufwendig und schwierig ist. Schon bei der Kohlrabisuppe habe ich gestaunt, wie schnell und einfach alles ging: Schnippeln, dünsten, Wasser und Gewürze rein, aufkochen, „habarás“ (S0ßenbinder) drauf, fertig. Und es ist schön, diese Zeit mit meinen Eltern zu verbringen. Ich saß zwar auch früher immer mit in der Küche als sie gekocht haben und habe Kartoffel geschält und Zwetschgen entkernt, aber für den Kochvorgang an sich habe ich mich nie besonders interessiert. Jetzt sind meine Eltern ganz begeistert bei der Sache und rufen mich regelmäßig an, um anzukündigen, was sie in den nächsten Tagen kochen werden. Mein Terminkalender füllt sich mit ganz neuen, unüblichen Terminen: Fasirozott (Fleischbällchen) am Donnerstag Abend, darázsfészek am Wochenende. Sie freuen sich, dass ich mich so sehr für ihre Rezepte interessiere. Und ich freue mich, dass sich mir eine ganz neue Welt erschließt die schon immer vor meiner Nase war aber für die ich einfach keinen Blick hatte.